

Es gibt Reisen, die plant man lange. Und es gibt solche, die tragen einen über Jahre hinweg, ohne dass man genau weiß, wann der richtige Moment gekommen ist. Die Antarktis gehörte für mich immer zu dieser zweiten Kategorie. Ein ferner Gedanke, ein weißer Fleck auf der inneren Landkarte. Als wir im November 2024 schließlich in Richtung Süden aufbrachen, war mir klar: Das hier würde kein gewöhnliches Bergabenteuer werden.
Nach vielen Expeditionen rund um den Globus – in bekannten Gebirgen ebenso wie abseits aller Routen – fehlte mir nur noch ein Kontinent. Am Ende war es weniger das „Abhaken“ eines Ziels als vielmehr die Neugier auf eine Landschaft, die sich jeder Vergleichbarkeit entzieht. Die Ostantarktis ist kein Ort, den man besucht. Sie ist ein Raum, in den man für eine gewisse Zeit eintaucht – mit Respekt, Demut und voller Konzentration.
Gemeinsam mit Christoph Höbenreich, Expeditionsleiter und erfahrenem Polarführer, meinem Bergführerkollegen Robert Miller und der deutschen Expeditionsärztin Katrin Oertel machte ich mich auf zu meiner ersten Pionierexpedition in die Ostantarktis. Unser Ziel war das Otto-von-Gruber-Gebirge in den Wohlthatbergen, tief im östlichen Königin-Maud-Land – einer Region, die alpinistisch bis heute kaum erschlossen ist. Das Gebirge wurde 1939 von der Deutschen Antarktischen Expedition mit Dornier-Wal-Flugbooten, die vom Mutterschiff Schwabenland vor der Schelfeisküste abkatapultiert wurden, aus der Luft entdeckt und dokumentiert. Benannt wurde es nach dem Kartographen mit österreichischen Wurzeln Otto von Gruber, der die ersten topographischen Karten der Gebirgsregion Neuschwabenland anfertigte.
Die Anreise – Übergang in eine andere Welt
Die meisten Abenteuer beginnen mit der Anreise. In der Antarktis ist sie bereits Teil der Expedition. Von Kapstadt aus flogen wir mit einer Iljuschin IL-76 über den Südlichen Ozean. Stundenlang nur Meer, dann Schelfeis, – und irgendwann dieser erste Blick auf den Kontinent, der so fremd wirkt, dass er fast unwirklich erscheint. Der entscheidende Moment folgte mit dem Umstieg in die Twin Otter. Klein, laut, funktional – und genau das richtige Werkzeug für diese Region. Sie brachte uns von der Novo Airbase tief hinein in die Berge, bis wir schließlich auf dem abgelegenen Ritscherplateau landeten. Als das Flugzeug wieder abhob und sein Geräusch langsam im Nichts verschwand, trat eine Stille ein, die man kaum beschreiben kann. Keine Infrastruktur, kein Verkehr, keine Spuren – nur Wind, Eis und Raum. In diesem Moment wurde die absolute Ausgesetztheit spürbar. Hier draußen gibt es keine Reserve. Alles, was man braucht, liegt vor einem im Schnee. Da stellt man das Zelt mit besonderer Sorgfalt auf.
Camp-Alltag – zwischen Schutz und Ausgeliefertsein
Unser Leben im Camp war einfach und reduziert. Starke Mauern aus Schneeziegeln schützten unsere Zelte vor den katabatischen Stürmen, extrem kräftigen Fallwinden, die vom Südpolarplateau herabziehen und innerhalb kürzester Zeit enorme Kräfte entwickeln können. Die Antarktis kann still und beinahe sanft wirken – doch wenn sie ihre Energie freisetzt, bleibt wenig Raum für Fehler. Unsere beiden Hilleberg-Zelte waren unser einziger Rückzugsort. Schlafplatz, Küche, Aufenthaltsraum, Denkraum. Hier wurde gelesen, geplant, diskutiert, gewartet. Hier wurde auch gelernt, Geduld zu haben. Denn die Antarktis gibt den Rhythmus vor, nicht der Mensch.
Erste Schritte im unbekannten Gelände
Nach einer kurzen Eingewöhnung in der Schirmacher Oase begann am 2. November der eigentliche Expeditionsteil. Schon früh zeigte sich, was uns begleiten würde: Stürme, die uns immer wieder zu Ruhetagen zwangen. Zeit, um das Camp zu verbessern, Karten zu studieren, Routen zu diskutieren – und um anzukommen. Am 4. November nutzten wir ein erstes Wetterfenster für eine kurze Tour vom Lager am Ritscherplateau. Der Däumling (2193 m), ein Gipfel zwischen Fünffingerspitzen und Zuckerhut, wurde unsere erste Erstbesteigung. Kein spektakulärer Berg, aber ein wichtiger Schritt. Ein vorsichtiges Hineintasten in diese fremde Gebirgswelt.
Der Ritschergipfel – Höhepunkt und Weite
Am 6. November 2024 folgte einer der prägenden Tage der gesamten Expedition. Vom Lager querten wir das weite Plateau und stiegen über eine bis zu 55 Grad steile Eisrinne an der Ostflanke zunächst auf den Ritscher-Ostgipfel (2700 m) – dessen erste Besteigung – und anschließend weiter auf den Ritschergipfel (2791 m), den höchsten Berg des gesamten Gebirges. Es war erst die dritte Besteigung dieses Berges überhaupt. Der majestätische und weithin sichtbare Berg wurde erstmals 1991 von den beiden Wissenschaftlern der ehemaligen DDR-Forschungsstation Georg Forster in der Schirmacher Oase Wieland Adler und Gerold Noack vom Untersee ausgehend über seine Nordwestseite bestiegen. Auf den Tag genau 1 Jahr vor unserer Besteigung über eine neue Route ist Christoph bereits auf dem Hauptgipfel gestanden. Oben angekommen öffnete sich der Blick über hunderte Kilometer Eis und Hochland. Die Luft war glasklar, die Temperaturen deutlich unter minus 30 Grad, der Wind kam vom Südpolarplateau herab. Ein Moment von großer Ruhe – und großer Demut.
Zwischen Sturm und Aufbruch
Die folgenden Tage zeigten erneut, wie wenig planbar eine Expedition in der Ostantarktis ist. Stürme hielten uns im Camp, bevor wir am 8. November trotz widriger Bedingungen in Richtung Zuckerhut aufbrachen. Unsere Annahme bestätigte sich: Die katabatischen Stürme wirken oft nur wenige Höhenmeter über dem Plateau. So gelang uns die zweite Besteigung des Zuckerhut-Nordgipfels (2468 m) über einen anmutig geschwungenen und bis zu 60 Grad steilen Schneegrat und bei klirrend kalten Bedingungen. Der Hauptgipfel blieb an diesem Tag leider für uns unerreichbar.
Am 9. November hieß es weiterziehen. Am sogenannten „stürmischen Plateau“ gruben wir die Zelte aus, verluden alles auf unsere Pulkas – jeweils rund 80 Kilogramm schwer – und zogen sie über endlose Gletscherflächen. In steileren Passagen seilten wir sie einzeln ab. Langsam, methodisch, konzentriert. Das neue Lager am Fuß der Bastei war jede Mühe wert. Ein außergewöhnlich schöner Ort – und ein perfekter Ausgangspunkt für die kommenden Tage.
Erstbesteigungen und Charakterberge
Da die Stürme an der Bastei zunächst zu stark waren, änderten wir am 10. November spontan den Plan und bestiegen den Hauptgipfel der Breitwand – unsere dritte Erstbesteigung. Am 11. November folgte ein Gipfel, der uns schon länger ins Auge gestochen war: eine markante Felsspitze hinter unserem Camp. Über die Westseite, durch Westrinne und Südwestgrat, erreichte ich gemeinsam mit meinem Bergführerkollegen Robert Miller erstmals den Gipfel. Die Form erinnerte sofort an die Salbitnadel – der Name Bergführerspitz (2325 m) war naheliegend. Eine Hommage an unseren Beruf und an all jene, Kollegen, die bei der wissenschaftlichen Erforschung der antarktischen Gebirge entscheidend mitgewirkt haben.
Am 12. November überquerten wir das Gletscherplateau und stiegen über einen eindrucksvollen Gletscherbruch und eine steile Firnflanke bei prächtigem Wetter und seltener Windstille auf den Mentzelberg (2330 m). Ich durfte wie bisher auch an diesem Berg die Führung und Routenfindung übernehmen, eine besondere Ehre, die mir meine Kollegen bei dieser Expedition zukommen ließen. Der Abstieg durch ein weites Tal entlang von Blaueisgletschern war landschaftlich einer der eindrucksvollsten Momente der Expedition. Der Name dieses Berges regte uns aber zum Nachdenken an. Anstatt heute noch an einen Nazi-Funktionär, Mitglied der SS und NSDAP und einen der einflussreichsten Wissenschaftspolitiker des Dritten Reiches zu erinnern, der seinerzeit aufgrund seines Einsatzes zum Zustandekommen der Deutschen Antarktischen Expedition namentlich in der Antarktis verewigt wurde, würden wir uns wünschen, den Berg in „Friedensgipfel“ umzubenennen. Ein Zeichen und eine Qualität, die in unserer heutigen Welt und auch in der Antarktis, dem Kontinent des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit, mehr denn je benötigt wird.
Geduld bis zum Schluss
Nach weiteren Ruhetagen gelang uns am 14. November trotz suboptimaler Bedingungen die Erstbesteigung der Bastei (2460 m). Der Name des Berges stammt von einer berühmten Felsformation des Elbsandsteingebirges am Ufer der Elbe in der Sächsischen Schweiz. Es folgten nochmals Tage des Wartens, des Schneeschaufelns, Lesens und Essens – fester Bestandteil jeder Polar-Expedition. Am 17. November nutzten wir ein letztes stabiles Wetterfenster. Gemeinsam mit Christoph gelang mir über eine neue Route auf der Südostseite die zweite Besteigung der Bergführerspitze, während Katrin und Robert einen weiteren, kleinen Gipfel am Ende der Kette erstmals bestiegen. Am selben Tag erreichten wir auch die zweite Besteigung der Bastei, diesmal über die Diagonalrinne. Bastei und Mentzelberg waren zwei der bemerkenswertesten, noch unbestiegenen Gipfel der Antarktis.
Rückzug und Rückblick
Über einen Zwischenstopp am Untersee, inklusive Wanderung und Einblick in die Forschungsarbeit vor Ort, flogen wir am 18. November zurück in die Schirmacher Oase. Nach dem Umpacken folgte eine letzte Wanderung mit Eistunneln und Pinguinkolonie, bevor uns der Rückflug schließlich wieder nach Kapstadt brachte.
Insgesamt konnten wir neun Gipfel besteigen, sieben davon waren Erstbesteigungen. Doch mehr als Zahlen bleiben Eindrücke: Stille, Wind, Weite – und das Gefühl, für einen kurzen Moment wirklich am Rand der Karte unterwegs gewesen zu sein.
Wir verließen diese Hochgebirgswildnis bewusst so, wie wir sie vorgefunden hatten – ohne Spuren, ohne Abfall. Selbst das, was vorher gegessen wurde. Vielleicht waren es die letzten privaten Besteigungen in diesem Gebirge. Deutschland plant nämlich, das gesamte Gebirgsmassiv zum „Schutz“ der Schneesturmvögel, die seit Jahrtausenden weit abseits der Berggipfel an den Ufern des gefrorenen Untersees brüten, als Antarctic Special Protected Area (ASPA) auszuweisen und unter „Schutz“ – vor was und wem auch immer – zu stellen und damit auch für Bergsteiger pauschal zu sperren. Da man aber nur wertschätzt und bewahrt, was man kennt und einem am Herzen liegt, wäre es wünschenswert, den Zugang zu einigen der wohl schönsten Berge Antarktikas nicht zu verwehren, sondern vielmehr nachhaltig zu erhalten. Vor allem für künftige, ebenso vorsichtige, naturliebende und entdeckungsfreudige Bergsteiger.
Was bleibt, ist Dankbarkeit: für das Team, für diese Landschaft – und für das Privileg, Teil eines Ortes gewesen zu sein, der sich nicht erklären lässt, sondern nur erleben!
Über die Expedition mit ihren 7 Erstbesteigungen wurde bereits in zahlreichen Medien berichtet. Besonders stolz macht uns ein Bericht im renommierten American Alpine Journal. Auch in den österreichischen Tageszeitungen „Die Presse“ und „Tiroler Tageszeitung“ gab es schöne Berichte darüber.