Ski-Expedition zum Mount Logan, Kanada 2023
12. May - 08. Jun 2023
Ski-Expedition zum Mount Logan, Kanada 2023

Reisebericht Mount Logan, Kanada, 2023

Im Mai / Juni 2023 war Tom das zweite Mal auf Skiexpedition zum Mount Logan unterwegs.
Eine Teilnehmerin hat dazu einen Reisebericht verfasst. Danke Susi für den spannenden Bericht.
Die Bilder im Bericht und in der Galerie stammen großteils von Udo, vielen Dank dafür. Auf Udo's Youtube Channel findet ihr noch mehr Eindrücke zum Mount Logan. Hier der Trailer: Mount Logan - The Trailer (youtube.com)

© Susanne Kraft (www.berghasen.com)

Expedition auf den höchsten Berg Kanadas. Die Geschichte, wie uns der Mount Logan warm empfangen hat und dann eiskalt abblitzen ließ.

Mit einer Höhe von 5.959 Metern erhebt sich der Mount Logan als höchster Berg Kanadas und als zweithöchster Gipfel Nordamerikas, nur übertroffen vom Denali in Alaska. Und dennoch kennt ihn kaum jemand.

Abgeschieden liegt er in der Saint-Elias-Kette, gigantische Eisfelder – die größten außerhalb der Polregionen und Grönlands – schneiden den Mount Logan von der Zivilisation ab. Sein gewaltiges Massiv hat einen Durchmesser von 50 Kilometern und nimmt eine monumentale Präsenz ein. Kein anderer, nicht-vulkanischer Gebirgsstock hat eine derart große Ausdehnung.

Doch nicht nur die schiere Größe und seine Abgeschiedenheit machen diesen Berg zu einem einzigartigen Ziel für Expeditionen. Durch seine Nähe zum Pazifik herrscht am Mount Logan extremes Wetter. Expeditionen müssen auch im Frühsommer mit Stürmen, anhaltenden Schneefällen und Temperaturen bis unter -40° rechnen. Zum Expeditionsbergsteigen muss man also nicht zwingend in den Himalaja reisen. Die Kanadischen Gipfel sind wilder und einsamer. Nur die Chance auf einen Gipfelerfolg ist hier um vieles geringer.

Genau aus diesen Gründen finden meine Expeditionspartner und ich diesen Berg so anziehend. Die Expedition zum Mount Logan verspricht nicht nur eine körperlich und logistisch herausfordernde Besteigung, sondern auch eine Begegnung mit einer der wildesten Gebirgslandschaften der Erde.

Die Geschichte, wie uns der Berg warm empfangen hat und dann eiskalt abblitzen ließ.

Flug ins ewige Eis

Aufgrund seiner Abgeschiedenheit beginnt die Expedition zum höchsten Gipfel Kanadas mit einem 150 km langen Flug in einer Propeller-Maschine zum Basislager auf 2.800 Metern Seehöhe.

Silver City am Ufer des Kluane Lakes. Jener Ort, von dem aus wir für drei Wochen ins ewige Eis aufbrechen. Fünf Häuser und ein Flugplatz, an dem gerade akribisch unsere gesamte Ausrüstung gewogen wird. Kein Kilogramm zu viel darf in die kleine Propeller-Maschine, will es der Pilot mit einem Tank ins Basislager und wieder retour schaffen.

Knapp 50 kg wiegt mein Anteil, mit dem ich mich mit Tom Rabl ins Flugzeug quetsche. Wir heben ab. Der eisbedeckte Kluane Lake verschwindet hinter den Tragflächen. Riesige Gletscherzungen lösen bald die dichten Wälder und mäandernden Flüsse unter uns ab.

Wir fliegen über das größte, zusammenhängende Eisfeld außerhalb der Polregionen. Alles hier übersteigt die Dimensionen der Alpen um ein Vielfaches. Und ganz langsam wird fassbar, wie unfassbar fern der Zivilisation der Mount Logan liegt.

Über dem flachen Becken des Quintino-Sella-Gletschers setzt der Pilot nach knapp einer Stunde zum Landeanflug an. Wir zerren unsere Ausrüstung aus dem kleinen Flugzeugbauch.

Die Maschine hebt ab, um Roland und Uwe, unsere deutschen Expeditionskollegen, zu holen. Innerhalb weniger Minuten umgibt uns eine alles umgreifende Stille. Wir stehen da in dieser unglaublichen Weite und Einsamkeit und blicken uns um.

Der Himmel tiefblau, die Sonne stark, die Gletscher weit, die Wände steil, die Gipfel hoch. Irgendwo ganz weit hinten muss der Mount Logan sein. Wir können ihn nur vermuten. 30 Kilometer Wegstrecke und 3.200 Höhenmeter trennen uns noch von seinem Hauptgipfel.

Einleben

Kurz lassen wir diese nie zuvor erlebte Stimmung auf uns wirken. Dann beginnen wir mit der Errichtung des Basislagers (2.800 m): treten für die Zelte eine Schneefläche mit den Skiern platt, stellen unser Schlafzelt auf, sägen Schneeblöcke aus den obersten Schneeschichten, stapeln sie in mühevoller Arbeit neben den Zelten als Windschutz und kümmern uns danach um unser kleines Tipi, das wir als Kochzelt und Aufenthaltsraum nutzen wollen. Nach knapp drei Stunden steht das Basecamp.

Inzwischen sind auch Uwe und Roland eingetroffen. Als der Pilot endgültig zum Abschied winkt, wird allen bewusst, dass es jetzt nur noch an uns liegt. Unheimlich, aber unglaublich befreiend zugleich.

Gemeinsam erledigen wir die letzten Handgriffe. Wir schmelzen Schnee, kochen Tee und bereiten das Abendessen vor. Die Handgriffe sind noch etwas unkoordiniert – doch bald werden wir gut eingespielt sein.

All diese Schritte werden sich nun täglich wiederholen. Drei Wochen lang. Jedes Lager wird so errichtet, dass es mehrere Tage im Schneesturm standhält. Ein Szenario, das auf dem Mount Logan sehr wahrscheinlich ist. Denn er gilt als einer der turbulentesten und kältesten Berge der Erde.

Schon der erste Morgen im Basislager ist klirrend kalt, die Nacht davor hingegen war unerwartet gemütlich. Das Thermometer zeigt beim Aufstehen im Vorzelt -20° an. So, als möchte uns der Berg gleich zu Beginn der Expedition erinnern, worauf wir uns eingelassen haben.

Schlitten ziehen, Lager bauen

Der Plan für die nächsten vier Tage ist es, das Lager schrittweise bis ins Camp 2 am Kings Col auf 4.100 Metern zu verlegen. Dazu wollen wir zunächst Verpflegung für drei Wochen, Benzin und Teile der Ausrüstung ins Camp 1 auf 3.300 Meter hinauftransportieren. Von dort aus arbeiten wir uns im gleichen Stil ins Camp 2 vor. Im Basislager vergraben wir nur ein Ersatzzelt, etwas Benzin, Verpflegung und Bier, um hoffentlich in drei Wochen auf den Gipfelerfolg anstoßen zu können.

Weil die Route bis ins Camp 2 sanft ansteigt und keine technischen Passagen enthält, verwenden wir zum Transport der Lasten Pulkas – Schlitten aus Plastik, die wir über Fiberglas-Stangen an den Hüftgurten unserer Rucksäcke befestigen und so Essen und Ausrüstung hinter uns herziehen können.

Der Tagesablauf für die ersten vier Tage:

  1. Essen, Benzin und Ausrüstung ins höhere Lager schaffen
  2. Ins untere Lager abfahren
  3. Das Lager abbrechen und den Rest der Ausrüstung ins nächste Lager transportieren
  4. Das höhere Lager errichten.

So arbeiten wir uns in vier Tagen bis zum Kings Col auf knapp über 4.000 Metern hoch. Für die Etappen benötigen wir jedes Mal knapp vier Stunden, wobei das Gehen noch am wenigsten anstrengend ist.

Langer Berg, lange Tage

Weit mehr Kraft und Energie kostet es, die Lager aufzubauen. Immer und immer wieder schaufeln wir Plattformen und die Toilette aus, sägen Schneeziegel aus und stapeln sie als Windschutz auf, kämpfen mit dem Wind, schmelzen Schnee, kochen Essen. Wir rackern uns ab für diesen Berg. Zehnstündige Arbeitstage sind die Regel.

Das Gute: Wir haben keinen Zeitdruck. Denn die Tage am Mount Logan sind um diese Jahreszeit lang. Auch nachts wird es nicht mehr richtig dunkel und die Sonne geht erst gegen 23 Uhr unter.

Die Nächte sind zwar kalt, tagsüber heizt die Sonne aber erbarmungslos auf die Aufstiegsroute und begleitet uns über vier Tage durchgehend bis hinauf zum Kings Col nordöstlich des wunderschönen King Peak.

Der Mount Logan hat uns warm und einsam empfangen. Laut Nationalpark-Management befinden sich aktuell zwei weitere Expeditionen am Berg. Ein Zweier-Team an der East Ridge und ein Dreier-Team auf der King Trench Route, auf der auch wir unterwegs sind und die auch der Weg der Erstbesteiger 1925 war. Die zweite Besteigung des Mount Logan gelang übrigens erst im Jahr 1950.

Das kanadische Dreier-Team schickt via Garmin InReach ein Notsignal, da eine Person höhenkrank ist. Wir treffen sie bei unserer letzten Runde ins Basecamp an und unterstützen sie beim Abstieg.

Höhenkrank auf 4.000 Metern? So hoch ist das doch nicht, wirst du dir jetzt denken.

Dünne Luft am Mount Logan

Der Mount Logan liegt auf 60 Grad nördlicher Breite und somit sehr nahe am Pol. Zum Vergleich: Der arktische Polarkreis liegt auf 66,57 Grad Nord, der Mount Everest auf knapp 28 Grad. Die Nähe zum Pol hat Einfluss auf den atmosphärischen Luftdruck, der in der Höhe, aber auch an den Polen geringer ist, weil die Troposphäre hier dünner ist.

Die Dichte der Luft am Mount Logan ist also aufgrund der Polnähe geringer als auf Gipfeln gleicher Höhe, die näher am Äquator liegen.

So ähneln die Luftbedingungen auf dem Gipfel-Plateau des Mount Logan etwa einem 7.000er im Himalaja. Zugleich erzwingt das riesige Hochplateau einen langen Aufenthalt in der Höhe, da dort große Strecken zurückgelegt werden müssen. Und nicht selten sitzt man in den oberen Lagern wegen Schlechtwetters mehrere Tage fest.

Der Kanadierin ist es nach der Abfahrt ins Basislager schnell wieder besser gegangen. Und wir können (wieder alleine am Berg) beruhigt unser nächstes Lager beziehen.

Nach anstrengenden, aber erfolgreichen ersten vier Tagen, sitzen wir am Abend des 18. Mai müde, aber zufrieden und gut akklimatisiert im Camp 2 am Kings Col.

Die große Stille

Kleidung und Ausrüstung hängen zum Trocknen in der hochstehenden Abendsonne, wir sitzen entspannt auf unseren Isomatten und saugen die Wärme in uns auf. Ich knabbere an Crackern und schaue in die Ferne in ein Meer aus Bergen. Wo niemand ist. Nur wir.

Es ist absolut still. Kein Flugzeug am Himmel, keine Tiergeräusche. Nur das Zischen des Benzinkochers, das Pfeifen des Windes, der um den Kings Peak streicht und das Krachen von Seracs, die immer wieder von den Wänden unter uns stürzen. Wir schauen sofort mit großen Augen und beobachten die Staubwolke, bis sie sich auf den Gletscher legt. Wieder Stille.

Doch die Einsamkeit hat auch Nachteile: Wir müssen uns diesen Berg hart erschuften. Keine anderen Teams am Berg bedeutet auch, keine hinterlassenen Lagerplätze, die wir verwenden könnten. Keine markierte Route, auf die wir uns verlassen können und keine Spur, in der wir aufsteigen können.

Orientieren, Spuren, Schaufeln – es liegt alles in unserer eigenen Hand. Der Ruhetag am nächsten Tag ist hochverdient. Nach vier Tagen in Folge, an denen wir je 10 Stunden und länger auf den Beinen waren, bleiben wir in den Zelten. Während es draußen stürmt, dösen wir dahin, lesen, naschen, ratschen, schreiben Tagebuch und tauschen Tourentipps aus. Nur, um aufs Klo zu gehen, verlassen wir kurz die Zelte.

Meilenstein am Mount Logan: Der Weg durch den Eisbruch

Es ist der Abschnitt vom Lager 2 ins Lager 3 auf 4.850 Metern, der am Mount Logan ein Meilenstein ist. Die Route ist deutlich steiler, als die vorigen Abschnitte und führt durch einen gigantischen Eisbruch. Mit der Pulka gibt es hier kein Durchkommen mehr.

Heißt: Die gesamte Last muss in den Rucksack. Verpflegung und Benzin für zehn Tage müssen durch den Eisbruch geschleppt werden. Nie zuvor hatte ich eine derart schwere Last am Rücken. Der Morgen ist angenehme -20° kühl und wunderschön. Unter uns ein riesiges Wolkenmeer. Darüber hinaus ragen nur die höchsten Giganten aus Eis und Schnee.

Tom spurt den ersten steilen Hang direkt hinter unserem Lager hinauf. Unsere Schritte sind langsam, aber rhythmisch. An das Gewicht, das sich vor einigen Minuten noch unerträglich schwer angefühlt hat, habe ich mich bald gewöhnt. Dennoch verkrampft mein Nacken, die Beckenknochen schmerzen und bei jeder Spitzkehre schwingt der Rucksack talwärts, sodass er mich fast aushebelt. Es ist ein Leidensweg – aber ein wunderschöner.

700 Höhenmeter steigen wir durch den Eisbruch auf. Vorbei an Eisblöcken, so groß wie Einfamilienhäuser. Schaumrollen aus Eis und Schnee und riesige Spalten tauchen auf. Dann am Horizont der Mount St. Elias. Was für ein Berg!

Das ganze Team ist dankbar für diesen Tag. Besonders dafür, dass wir ganz allein in dieser wilden Szenerie sein dürfen.

Tom und Roland sind heute unglaublich stark. Roland hat Udo einen Teil seiner Verpflegung abgenommen, weil ihn die Tour körperlich immer mehr an die Grenzen bringt. Es ist aber auch hart!

Nach fünf Stunden erreichen wir ein Plateau, auf dem wir das nächste Camp errichten. Wir schaufeln schon das Klo aus, deponieren in der Zwischenzeit die Essensvorräte darin und fahren am Seil zurück zum Camp 2 am Kings Col ab. Morgen nochmals Ruhetag, weil bitter nötig und Wetter übel.

Akklimatisation: Wie geht das?

Die Akklimatisation läuft schrittweise und fast nebenbei mit den Transportgängen und dem Höherlegen der Lager ab. Während der Aufstiege achten wir darauf, möglichst im Grundlagenbereich zu gehen und uns nicht zu verausgaben.

Trotzdem passieren im Expeditionsalltag immer wieder Fehler, die die Akklimatisation negativ beeinflussen. Man trinkt zu wenig, man isst nicht ausreichend, man verausgabt sich zu stark, man schläft schlecht. Ein Fehler – ein Schritt zurück in der Akklimatisation. Sensibel reagiert der Körper in dieser Höhe auf jeder Art der Überforderung oder Unterversorgung.

Nicht nur einmal fühle ich mich am Vortag so, als könnte ich morgen sofort zum Gipfel aufbrechen und tags darauf sind 500 Höhenmeter Gehen ein unglaublicher Kraftakt.

Nach acht Tagen befinden wir uns gut akklimatisiert in unserem höchsten Lager auf 4.850 Metern und sind bereit für die erste, große Akklimatisierungstour!

Akklimatisierungstour auf den Prospectors Peak (5.644 m)

Als Akklimatisierungstour haben wir den Prospectors Peak ausgewählt. Es ist einer von zwölf Nebengipfeln des Mount Logan und liegt auf dem ersten Teil der Aufstiegsroute zum Hauptgipfel. Endlich eine richtige Skitour mit leichtem Rucksack. Und Pulverschnee!

Es ist leicht nebelig, aber die Sicht ist ausreichend und die Temperatur erträglich. Über sanft geneigte Hänge steigen wir mit Panorama auf den Kings Peak höher. Auf einem kleinen Plateau überschreite ich das erste Mal die 5.000 Meter Marke. Was für ein Gefühl!

Ich fühle mich gut, doch ab einer Höhe von 5.400 m spüre ich einen merkwürdigen Schwindel im Kopf und mir ist etwas übel. Ich konzentriere mich auf die Atmung und kann die Symptome gut kontrollieren.

Immer wieder reißen die Wolken auf und geben den Blick auf die umliegenden Gipfel frei, die schon deutlich kleiner werden. Über eine vereiste Kuppe erreichen wir unschwierig den höchsten Punkt des Prospectors Peak.

Leider steckt der Gipfel im Nebel, der sich nur selten lichtet. Ganz kurz können wir einen Blick auf den Mount Logan erhaschen. Es sieht noch unglaublich weit bis zum Gipfel aus, von dem uns ein riesiges Plateau trennt. Ohne weiteres hätten der Kilimanjaro, der Eiger und der Mont Blanc nebeneinander auf diesem Plateau Platz. Dieser Weg wird lang. Und beschwerlich.

Wie lang? So lang!

Das Schwierige an der Gipfeletappe wird ein Gegenanstieg sein, den wir vom Plateau zurück auf den Prospectors Pass unterhalb des Prospectors Peaks überwinden müssen. Für 400 Höhenmeter muss die Kraft nach dem Gipfelsieg noch reichen. Auf keinen Fall dürfen wir dort in schlechtes Wetter geraten. Jeder von uns muss genügend Reserven für diesen Aufschwung haben. Und auf gar keinen Fall darf sich dort unten jemand verletzen.

So stehen wir am Gipfel des Prospectors Peaks. In voller Vorfreude aber auch mit vielen Zweifeln. Wir grübeln und hoffen, es möge sich ein Wetterfenster für den Logan auftun. Aufgrund dieser Unsicherheit fühlt sich der Prospectors Peak gerade an wie eine Nebensache. Bis Tom unterstreicht, dass wir gerade nach so harter Arbeit auf einem richtig hohen Gipfel stehen und stolz sein können. Und ja, das sind wir!

Jetzt freuen wir uns erstmal auf die Abfahrt. Die ist zuerst knusprig, dann windgepresst und dann ziehen wir feinste Schwünge durch frischen Pulverschnee, über den schon monatelang niemand mehr gefahren ist.

Nach fünfeinhalb Stunden sind wir zurück im Lager. Voller positiver Erwartungen und doch sollte alles anders kommen.

Gefangen am langen Berg

Der Wetterbericht für die kommenden Tage sieht übel aus. Mindestens 50 cm Neuschnee, Temperaturen um -40° und Sturm sind angekündigt. Wir machen unser Lager sturmfest – beziehungsweise bessern dort nach, wo es noch Schwachstellen gibt.

An diesem Abend reißt die Wolkendecke ein letztes Mal auf. So, als wolle uns der Berg zeigen, wie schön er ist, bevor die weiße Hölle über uns hereinbricht. Im Gletscherbecken tief unter uns liegt ein Nebelmeer. Wir essen draußen, obwohl es eiskalt ist und lassen uns die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen.

Diese Momente stärken die Hoffnung auf einen Gipfelerfolg. Dann sitzen wir fünf Tage im Schneesturm auf knapp 5.000 Metern fest. Es stürmt und schneit den ganzen Tag. Um uns ist alles weiß. Aus dem Zeltinneren erkennen wir, wie draußen die Schneedecke wächst.

Alle paar Stunden ziehen wir uns komplett an und schaufeln die Zelte und den Weg zum Klo frei. Die Skibrille und die Kapuze tief ins Gewicht gezogen kämpfen wir mit den Schneemassen. Auch im Zelt wird es immer ungemütlicher. Das Zelt ist innen von Raureif überzogen. Der Wind rüttelt von draußen, drinnen rieseln uns die Schneekristalle ins Gesicht. Es ist grauenhaft.

Am zweiten Sturmtag kollabiert das Essens-Tipi unter der Neuschneemenge. Wir müssen Teile unserer Ausrüstung ausgraben und in unsere Schlafzelte retten.

Fünf Tage Whiteout am Mount Logan

Die Tage verschwimmen ineinander. Auch mental befinden wir uns in einem Whiteout. Am 28. Mai kalkulieren wir unser Essen und rationieren es auf die einzelnen, noch verbleibenden Tage. Bis Donnerstag, den 1. Juni, werden wir noch auskommen. Bis dahin müssen wir am Gipfel gewesen sein. Oder ins untere Lager absteigen. Dort haben wir ein Depot hinterlassen.

Es ist Pfingstsonntag und ich komme mir so unglaublich weit weg von meinem normalen Leben vor. Unser Alltag hier besteht nur aus Bemühungen, diesen Berg zu besteigen und den Schneesturm auszusitzen: Schnee schmelzen, Kochen, Schaufeln, Wetter checken.

Die Kälte

Mittlerweile sind wir auch nicht mehr allein am Berg. Am letzten schönen Tag sind drei Amerikaner zu uns gestoßen. Darunter eine Frau, die als erste Dame alle Second Seven Summits besteigen will. Nur der Mount Logan fehlt ihr noch. Geht alles gut, wollen wir uns für den Gipfelversuch zusammentun.

Doch schon wenige Tage später müssen wir diesen Plan verwerfen. Einer aus dem Team der Amerikaner hat sich bei einem Transportgang Erfrierungen an allen Fingern zugezogen. In dieser Nacht haben wir -40° gemessen. Sie wollen für den nächsten Tag eine Heli-Rettung organisieren. Wir werden also alleine zum Gipfel aufbrechen.

Nur einzelne Momente stechen aus diesem kalten Tagen positiv hervor. Einer dieser Momente war dieser an Tag fünf des Schneesturms: An diesem Nachmittag sackt innerhalb weniger Minuten plötzlich die Wolkendecke ab; über uns strahlt der blaue Himmel und unter uns der Neuschnee. Die Sonne steht noch hoch am Himmel – rund herum ein riesiges Halo mit zwei Scheinsonnen.

Es ist klirrend kalt und die Nebeltropfen gefrieren sofort in der eisigen Luft. Als tausende kleine Kristalle tänzeln sie wie ein magischer Staub vor der untergehenden Sonne. Das passiert am Vortag des Gipfelversuchs und gibt uns wieder ein positives Gefühl.

Gipfelstrategie für den Mount Logan

Weil sich weiterhin kein stabiles Wetterfenster abzeichnet, hat Toms Frau Daniela zuhause mittlerweile den Wettergott Karl Gabel kontaktiert. Er sagt für Dienstag, den 30. Mai, deutliche Wetterbesserung vorher. Sonnig, wenig Wind, aber eiskalt.

Weil die Zeit knapp wird und Udo keinen Gipfelversuch unternehmen will, tendieren wir dazu, den Gipfel ohne weiteres Hochlager vom Camp 3 aus zu versuchen. Das wären über 2.000 Höhenmeter und 20 Kilometer; durchgehend über 5.000 Meter.

Wir sind uns bewusst, dass dieser Plan brutal ist, wollen es aber trotzdem versuchen. Es gibt zumindest einen Lichtblick in diesem Gefängnis aus Schnee und Eis.

Am Vortag treffen wir alle Vorkehrungen. Möglichst leicht wollen wir unterwegs sein und rechnen für die gesamte Tour trotzdem mit mindestens 15 Stunden. Morgen nach einer Woche des Zuwartens wieder körperliche Höchstleistungen zu bringen, wird enorm herausfordernd werden. Mein Kopf kann nicht visualisieren, wie sich mein Körper plötzlich wieder über Stunden bewegen soll. Wir gehen früh schlafen.

Mount Logan: Der lange Weg zum langen Berg

30. Mai 2023, 6 Uhr früh. Ich blicke nach oben. Raureif an den Zeltwänden. Vorsichtig anziehen: Thermounterwäsche, Primalofthose, Daunenjacke, darüber die Shell-Jacke und GoreTex-Hose. Hals und Ohren gut einpacken, Wärmepads vorbereiten, Schokomüsli essen – das einzige, das ich gerade noch runterbekomme.

Besonders gut packen wir die Füße ein. Als erste Schicht ein dünner Merinosocken, als Zwischenschicht eine Dampfsperre und darüber ein dicker Merinosocken. Ich hole den Innenschuh aus dem Schlafsack, schlüpfe hinein und zwänge mich in die steife Schale, die schon im Neopren-Überschuh steckt.

Das gleiche Prozedere mit den Händen: Dünner Fingerhandschuh, darüber ein Daunenhandschuh und als äußerste Schicht ein Shell-Handschuh. Raus aus dem Zelt.

Zu kalt

Keine zwei Minuten stehen wir im Schnee und ich spüre die Zehen nicht mehr. Wieder -40°. Unmöglich, so zu starten. Zurück ins Zelt, raus aus den Schuhen, rein in den Schlafsack, Zehen wärmen.

Wir müssen warten, bis die Sonne da ist. Ansonsten ist es undenkbar, bei dieser Kälter weiter aufzusteigen. Und das, obwohl ich sämtliche Kleidung am Leib trage, die ich dabeihabe. Um 8.45 Uhr streifen endlich die Sonnenstrahlen das Zelt.

Mit dem Wissen, jetzt schon drei Stunden hinter dem Zeitplan zu liegen, eilen wir los.

Aufstieg zum Prospectors Pass

Trotz Sonne, Wärmepads und Daunenjacke ist der Weg hinauf zum Pass eisig kalt. Schon nach wenigen Minuten sind meine Zehen taub. Die Angst vor Erfrierungen lässt mich meine Zehen durchgehend bewegen. Spüre ich alle? Der große fühlt sich wie ein Fremdkörper an. Aber immerhin nehme ich ihn noch wahr. Also alles gut.

Körperlich fühle ich mich so schlecht wie an keinem anderen Tag der Expedition. Der Körper ist überfordert mit dieser irren Kälte. Unfähig, Leistung zu bringen. Zweimal muss ich Tom um Pausen bitten.

Nach dreieinhalb Stunden erreichen wir den Prospectors Pass auf 5.500 Metern. Eine gute Zeit, trotz unserer üblen Verfassung. Vom Pass müssen wir etwa 400 Meter auf das riesige Plateau abfahren, das hinüber zum Hauptgipfel zieht.

Das lange Plateau

Wir fellen ab und versuchen, das Plateau mit möglichst geringem Höhenverlust zu queren. Die Fläche vor uns scheint endlos weit. Erst jetzt wird greifbar, wie enorm die Distanz ist, die wir zurücklegen müssen. Der Gipfel ist immer noch nicht im Blickfeld und wir kommen viel langsamer voran, als erhofft.

Wir können nicht wie erhofft einen Großteil des Plateaus mit Skiern abfahren, sondern müssen bald wieder auffellen, weil das Gelände zu kupiert ist. Die Skier gleiten voran. Mal leicht ansteigend, mal leicht abfallend, mal queren wir große Seraczonen.

Wir befinden uns auf 5.200 m und die meisten Berge liegen tief unter uns. Wolken umspielen ihre Flanken. Kilometerweit nichts anders als Schnee, Gletscher, Eis, Täler und Erhebungen. Nach sechs Stunden machen wir eine Pause. Kochen am Jetboil Wasser nach und lassen uns von der Sonne wärmen, die hier auf der Ostseite schon viel stärker ist und deren Wärme vom Plateau angenehm konserviert wird.

Es hat etwa -20° und ich fühle mich körperlich endlich besser.

Zu spät

Wir steigen weitere eineinhalb Stunden auf. Mittlerweile ist es fast 16 Uhr. Die Zeit rinnt uns davon. Nur sie kann die Kälte nicht einfrieren. Beim Blick zurück auf das Plateau und den Gegenanstieg kommen mir erstmals Zweifel. So weit. Und bald wird es wieder eiskalt sein.

Unser Tempo ist nicht langsam, aber auch nicht schnell. Dann treten wir um eine Kuppe und der Mount Logan steht endlich vor uns. In Sichtweite und doch ungreifbar. In diesem Moment wird mir klar, dass es für mich heute keinen Gipfel geben kann.

Die Nähe täuscht. Immer noch fehlen 500 Höhenmeter zum Gipfel. Seil Profil gleicht zwei Kamelbuckeln. Davor ein windgepresstes Plateau mit vereisten Windgangeln. Es ist 17 Uhr und wir bräuchten sicher nochmals drei Stunden zum höchsten Punkt.

Die Temperaturen werden bald wieder auf 40 Grad unter Null fallen. Der Gegenanstieg auf den Prospectors Pass wird weitere Kraft und Zeit fressen. Es ist unmöglich. Und wäre unverantwortlich. Ich bin nicht bereit, meine Finger und Zehen zu verlieren. Tom und Roland geht es gleich.

Die Entscheidung schmerzt so sehr. So viel haben wir gegeben. Tiefe Enttäuschung blickt aus unseren Augen. Wir sind nicht wegen uns selbst enttäuscht, sondern wegen dieser harten Bedingungen. Es ist einfach zu kalt und zu weit.

Das lange Leiden am Mount Logan

Wir fellen ab und sind in wenigen Minuten zurück am Plateau. Dann beginnen die härtesten Stunden meines Lebens. 450 Höhenmeter Gegenanstieg – zu Hause eine Sache von 40 Minuten. Jetzt, nach über neun Stunden auf über 5.000 Metern, eine von drei Stunden.

Ich erkenne meinen Körper nicht wieder. Jeder Schritt geschieht am Rande des Möglichen. Ich habe maximal 135 Puls, doch meine Beine lassen sich einfach nicht schneller bewegen. Zu wenig Sauerstoff kommt in der Muskulatur an.

Alle paar Minuten plagen mich wegen der trockenen, und immer kälter werdenden Luft, Hustenanfälle. Über vier Kilometer zieht sich der Gegenanstieg und mit ihm mein Leiden. Die langsamen Beine gewinnen kaum Meter. Jeder Blick nach oben die bittere Enttäuschung, dass der Pass nicht näher gerückt ist. Ich muss es schaffen.

Die Sonne sinkt zum Horizont hinab, Wind frischt auf, die Finger und die Wangen werden wieder kalt. Und dann, gerade als die Kälte fast wieder unerträglich wird, ist die Passhöhe erreicht. Eisiger Wind empfängt uns und macht das Zusammenlegen der Felle unmöglich. Ich stopfe alles irgendwie in meinen Rucksack und schaffe es, mir die Daunenhose überzuziehen. Die Skibrille ist in wenigen Minuten zur Hälfte vereist.

Befreiende Schwünge

Ich kratze die Brille frei, um bei der Abfahrt zumindest ein wenig zu sehen. Dann lassen wir die Skier laufen. Mit den letzten Sonnenstrahlen des Tages schwingen wir die 700 Höhenmeter in unser Lager hinab. Enttäuschung, aber auch tiefe Zufriedenheit erfüllen mich.

Das kühle Abendlicht taucht die Landschaft rund herum in ein mattes Blau. Ich erkenne das Privileg, hier Skizufahren. Erst wenige Bergsteiger vor uns sind hier abgefahren. Noch weniger waren zuvor am Gipfel. Der Schnee ist tadellos, das Skifahren macht nach dem Kampf zuvor immer noch Spaß – ja fast ist er schon vergessen.

Die Kälte und der Fahrtwind haben mittlerweile meinen Körper betäubt. Doch die Gewissheit, dass ich mich bald im Schlafsack aufwärmen kann, lässt mich weiterfahren.

Zu gerne würde ich ein Bild davon machen, wie wir zu dritt auf den Kings Peak zuschwingen. Absolut einsam. Aber ich kann die Hände nicht aus den Handschuhen ziehen.

Zurück im Lager schlüpfe ich sofort in den Schlafsack. Zwei Stunden brauche ich, bis meine Körpertemperatur wieder ein angenehmes Niveau erreicht. Ich bin zu erschöpft, um etwas zu essen und falle in einen traumlosen Schlaf.

Abschied vom Mount Logan

Die Chance ist vertan. Die Tage am Mount Logan sind gezählt. Das realisiere ich erst, als ich am nächsten Tag aufwache und wir beginnen, das Lager abzubauen. Wir müssen die komplette Ausrüstung, das restliche Essen und Benzin sowie unseren Müll hinab ins Basislager bringen.

Die Rucksäcke maximal bepackt fahren wir am Seil ins Camp 2 ab. Skifahren ist unter der Last kaum mehr möglich, die Beine sind müde von den Strapazen der vergangenen 19 Tage.

In Camp 2 sondieren wir unser Depot und können einen Teil der Ausrüstung auf die Pulkas umladen. Der Abtransport gibt uns dann wirklich den Rest. Die Pulkas kugeln mehr um die Kurve, als sie fahren. Mehrmals müssen wir unsere Ausrüstung wieder am Gletscher einsammeln. Keiner spricht es aus, aber wir alle sind maximal genervt.

Nach fünf Stunden haben wir die 16 Kilometer vom Camp 3 ins Basecamp hinter uns gebracht und finden nach kurzem Suchen den Geo-Cache unseres Basislagers. Wir graben das Depot aus. Das Bier ist nur halbgefroren. Die Dose zischt, wir stoßen an. Auf diesen Berg, auf diese einsamen, wunderschönen und harten Tage. Auf uns.

Auch wenn uns der Gipfel verwehrt geblieben ist: Die Expedition fühlt sich nicht nach Scheitern an. Wir haben so viel erreicht, so viel erleben dürfen. So viel gesehen, das so wenige vor uns gesehen haben.

Zurück in den Kanadischen Sommer, zurück in die Zivilisation

Am nächsten Tag werden wir nach zehnstündigem Warten per Helikopter ausgeflogen, weil die Propeller-Maschine nicht einsatzbereit ist. Wir fliegen über die wilde Landschaft, die uns in den letzten Wochen so viel abverlangt und so viel gegeben hat. Nehmen Abschied vom Mount Logan.

Unsere Rückkehr in die Zivilisation war wie die Landung auf einem anderen Planeten. Während der drei Wochen am Gletscher ist das Grün der Nadelbäume kräftiger geworden. Die Seen sind eisfrei, die Flüsse angeschwollen und die Grizzlys aus dem Winterschlaf erwacht.

Wir erleben alles ganz intensiv, so wäre es das erste Mal. Das erste Mal Salat essen, das erste Mal Duschen, das erste Mal Vogelgezwitscher hören, das erste Mal etwas anderes anhaben, als Skischuhe. Das erste Mal in einem Bett schlafen, in dem es uns viel zu heiß vorkommt.

Ein großer Dank an Roland und Udo, mit denen das Zusammenleben während der Expedition (fast immer) äußerst angenehm war. Und natürlich einen besonderen Dank an Tom von Pure Mountain, der diese Expedition überhaupt erst möglich gemacht und mich zu dieser Reise inspiriert und motiviert hat!